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Minarai

Minarai bedeutet „Beim Sehen Lernen“. Diese Technik wird in vielen japanischen Handwerksberufen angewendet. Ein Lehrling beobachtet in der Anfangszeit den Meister, ohne selbst etwas aktiv zu tun. Nur durch das aktive und konzentrierte Zusehen lernt er bereits etwas.

Wenn der Lernende dann zum ersten Mal selbst aktiv etwas tut, hat der Körper bereits ein Gefühl für die richtigen Bewegungen entwickelt. Natürlich können diese Bewegungen noch nicht richtig ausgeführt werden. Doch der Lernende spürt, wie es sich anfühlen müsste, und kann sich selbst besser korrigieren.

Beim Shibari gilt das auch. Wer lange eine erfahrene Person genau beobachtet, kann dadurch sehr viel lernen. Wenn dann aktiv das Seil in die Hand genommen wird, begreift man, wie das alles gemacht wird. Da Shibari oft auf Bühnen und bei privaten Anlässen zu sehen ist, sollte diese Gelegenheit genutzt werden. Fans bestimmter Bakushi reisen zum Teil über weite Strecken an, um jede Gelegenheit zu nutzen, sie zu beobachten. Jede Performance ist eine Chance, Minarai zu machen.

Minarabi: Einem Lehrer zusehen bildet die lernende Person.

Aufmerksames und intensives Zusehen spielt in Japan eine grosse Rolle. Die Verbindung zwischen Auge und Hand überträgt ein Gefühl für die „richtige“ Bewegung. Shibari ist besonders für diese Art des Lernens geeignet, weil es einem eigenen Rhythmus folgt.

Gleichzeitig kann dies jedoch Probleme schaffen. Wenn die Bewegungen zu deutlich und vorhersehbar sind, kann der Bakushi die Ukete nicht überraschen. Auch das (fachunkundige) Publikum kann so im Laufe der Zeit den Stil der Bakushi erkennen. Zum Teil wurden darauf hin Techniken entwickelt, deren Zweck nicht offensichtlich ist, um so das Überraschungsmoment zu erhalten.

Nawajiri

Nawajiri ist der Begriff für den längeren Teil des Seils. Es wird auch als „laufendes Ende“ bezeichnet. Das Nawajiri kann auch das Ende des Seils kurz vor den Knoten sein. Es kann aktiv für die Kommunikation mit dem Modell genutzt werden und spielt eine grosse Rolle als reale und metaphorische Verbindung zwischen dem Bakushi und dem Modell.

Nawajiri - das laufende Ende des Seils.

Die Arbeit mit dem Nawajiri ist ein wesentlicher Teil der Ausbildung. Vor allem im Yukimura-Ryû spielt es eine prominente Rolle. Dieser minimalistische Stil betont die Tension und setzt eine grosse Sensibilität und Erfahrung voraus.

Nijûbishi

Nijûbishi (二重菱) gehören zu eine Gruppe von Shibari-Mustern, die vor allem im Osada-Ryû eine wichtige Rolle spielen. Sie basieren auf dem Hishi, einer Raute. Dieses Symbol ist eine stilisierte Wasserkastanie und kommt auch in der japanischen Heraldik vor. Zahlreiche Familienwappen (Kamon, 家紋) enthalten dieses Symbol und auch im Firmenlogo der Automarke Mitsubishi kommt es vor.

Nijûbishi, Frontansicht

Es gibt zahlreiche Varianten und sie sind vor allem wegen der symmetrischen Form beliebt. Ausserdem zeigen sie das Können eines Bakushi, da eine grosse Geschicklichkeit erforderlich ist. Fingerfertigkeit und die Fähigkeit, gleichzeitig den Kontakt mit dem Partner aufrecht zu erhalten, kommen hier zur vollen Entfaltung.

Die Rückseite ähnelt einem Takatekote, es gibt aber auch Möglichkeiten, Hôjô-Nawa-Techniken einzusetzen. Je nach Konstruktion sind sogar Suspensionen mit diesen Techniken möglich. Wichtig ist hier, dass die Gewichtsverteilung und die Spannung im Seil perfekt abgestimmt sind.

Ri

Ri (理) ist eine Längeneinheit, die ca. 3,9 Kilometern entspricht. Als Längenmass wird es oft für die Messung von Distanzen, zum Beispiel zwischen Städten, verwendet und ist ähnlich wie die englische Meile oder der deutsche Kilometer das Standardmass dafür. Heute wird in Japan generell das metrische System verwendet, in Romanen jedoch findet sich noch häufig das Ri als Distanzangabe.

Es ist Teil des japanischen Shakkanhô-Systems, mit dem Längen, Flächen, Volumina, Gewichte und Geld gemessen wurden.

Rin

Das Rin (厘) ist eine traditionelle japanische Längenmasseinheit, die etwa 0,0303 cm entspricht. Sie gehört dem japanischen Shakkanhô-System an, mit dem Längen, Volumina, Flächen, Gewichte und Geld gemessen wurden.

Rin sind heute kaum mehr gebräuchlich und spielen im Shibari keine besondere Rolle.

Seme

Seme (責め) bedeutet „Folter“ oder „Qual“ und bezeichnet restriktive oder schmerzhaftes Shibari. Traditionelle Muster, wie der Gyaku-Ebi (逆海老吊り) fallen zum Beispiel darunter.

Der Begriff stammt aus dem japanischen Mittelalter und kommt dort auch im Theater vor. Im Kabuki-Theater der Edo-Zeit wurden so besonders grausame Todes-Szenen bezeichnet. Damit ist die Verwandtschaft von Shibari mit dem Theater auch in dieser Technik erhalten.

Die künstlerische Darstellung von Schmerz ist also Teil der Performance.

Von Tadakiyo (Hasegawa Kanbee XIV) (1847–1929) - Museum of Fine Arts, Boston, online database, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=38440404
Kabuki-Schauspieler auf einem Plakat

Schmerz spielt jedoch in Japan eine andere Rolle als in Europa und den USA. Im Westen wird Seme oft als „schmerzhaft“ verstanden. Ebenso wichtig sind Kompression, und restriktive Körperhaltungen. Zahlreiche Shibari-Stile enthalten darum komplexe Muster, die stetig steigende Seilspannungen enthalten.

Suspension mit Seme. K2-Salon, 2016.
Suspension mit Seme

Seme kann mit grosser emotionaler Nähe, aber auch sehr distanziert und „kühl“ eingesetzt werden. Es kommt in jedem Stil vor. Selbst im Yukimury-Ryû, das für sein „streichelndes Seil“ (Aibu-nawa, 愛撫縄) bekannt ist, spielt es eine Rolle. Seme hat also eine körperliche, emotionale und verbale Dimension.

Im Yukimura-Ryû spielt dabei die so genannte Kotoba-zeme eine wichtige Rolle. Dabei muss es nicht um verbale (gespielte) Herabwürdigung gehen, sondern es kann auch einfach eine starke emotionale Reaktion durch intensives Flüstern oder Atmen erzeugt werden. Es gibt eine Verbindung zwischen dem Kotoba-zeme und dem Einsatz des Ki (気), wenn beides mit dem Atem verbunden wird.

Semenawa

Semenawa (責め縄) bedeutet „Folterseil“ und wird oft so übersetzt. Je nach Fesselstil (流, Ryû) kann es jedoch abweichende Bedeutungen geben. Körperlicher Schmerz spielt eine grosse Rolle, ist jedoch nicht das einzige Element.

In Europa und den USA wird Semenawa oft mit schmerzhaften Mustern und Suspensions assoziiert. Dabei spielt der kulturelle Hintergrund eine grosse Rolle. Die Übersetzung „Folterseil“ erinnert an mittelalterliche Folterpraktiken, so dass Schmerz ein naheliegendes Thema ist. Gerade Menschen mit einem Hintergrund im BDSM betonen diesen Aspekt häufig. Dies greift jedoch zu kurz. Semenawa ist komplexer und subtiler und weit mehr als nur ein Weg, um mit Seilen Schmerz zu erzeugen.

Ishidaki-Folter der Edo-Zeit.
Ishidaki-Folter aus der Edo-Zeit

Das japanische Wort für mittelalterliche Folter ist Gômon (拷問), was dem deutschen Begriff „hochnotpeinliche Befragung“ entspricht. Die mittelalterliche Folter ist also etwas anderes als reines „Seme“, inspiriert aber im Shibari viele Positionen und Muster.

Im Grunde gibt es zwei Ebenen, die unterschieden werden müssen. Die technische Ebene, also was mit dem Seil gemacht wird, und die emotionale Ebene, also was im Kopf von Ukete erzeugt wird.

Körperliche und mentale Aspekte von Semenawa

Körperlich ist Semenawa grundsätzlich fordernd. Das heisst, es wird restriktiver, enger, mit mehr Seil gearbeitet. Die Körperhaltung wird oft durch das Seil geschaffen und fixiert, so dass wenig Bewegungsspielraum bleibt. Das Seil erzwingt eine Haltung, auch wenn sie anstrengend oder unangenehm ist. Der Körper spürt den Druck, Kompression und Enge im Muster sind ebenfalls wichtige Aspekte dabei.

Mental erzeugt Semenawa ein Gefühl von Hilflosigkeit und Ausweglosigkeit. Ukete spürt, dass etwas mit ihm/ihr geschieht, das sich der eigenen Kontrolle weitgehend entzieht. Bakushi formt und führt und folgt dabei dem eigenen Plan, das Seil ist das Werkzeug, das diese Vision realisiert.

Ukete spürt, wie ausweglos die Lage ist und muss die Situation ertragen. Das Ertragen ist hier zentral und bezieht sich nicht nur auf Schmerzen. Die Situation als Ganzes muss einfach ausgehalten werden, egal, wie entblösst, hilflos oder ausgeliefert Ukete ist.

Das Leiden als Motiv

Es geht also um das Leiden als zentrales Element. Ukete soll etwas erdulden, und das nicht nur auf einer Ebene, sondern ganzheitlich. Gezielt körperliches Leid zu betonen, um später eher zu entblössen und so das mentale Leid zu betonen, kann einen besonderen Reiz entstehen lassen, wenn Ukete bereit ist, dem zu folgen.

Wenn es eine starke Präferenz für körperliches Leiden gibt, ist es sinnvoll, sich auf diesen Aspekt zu konzentrieren. Wenn Ukete eher für mentales Leiden oder ambivalente Gefühle empfänglich ist, sollte dieser Aspekt betont werden. In jedem Fall ist beides seme, unabhängig davon, ob es sich um Bodentechniken oder Suspensions handelt oder welches Muster man wählt.

Shakuhachi

Shakuhachi (尺八) heisst eine traditionelle japanische Bambusflöte. Der Name kommt von der Länge des Instruments, das aus einem Shaku und ach Sun besteht. Die Standardlänge beträgt damit circa 54.5cm. Es gibt verschiedene Längen, was die Tonhöhe beeinflusst, was aber fürs Shibari keine Rolle spielt.

Die Shakuhachi ist natürlich ein Musikinstrument, wurde aber auch als Hilfsmittel für Meditation verwendet. Die Flöte wurde also entweder als Unterhaltungsinstrument oder als religiöses Objekt verwendet. Auch das Shibarimuster kann zur Unterhaltung oder mit meditativem Ziel verwendet werden.

Das Muster ist also kulturell unterschiedlich interpretierbar. So, wie sich die eigene Haltung verändert, kann auch die Interaktion unterschiedlich sein.

Sun

Sun (寸) ist eine traditionelle japanische Längeneinheit, die etwa 3.3 cm entspricht. Zehn Sun sind ein Shaku. Diese Masseinheit ist nicht mehr gebräuchlich, in Japan gilt das metrische System. Traditionelles Handwerk produziert allerdings immer noch Gegenstände, die den traditionellen Längen entsprechen. Ein Beispiel ist die traditionelle Bambusflöte (Shakuhachi) oder auch das rechteckige Handtuch Tenugui.

Takatekote

Takatekote (高手小手) heisst ein klassisches Shibari-Muster. Es ist eines der bekanntesten und verbreitetsten Muster. Dabei werden die Unterarme mindestens horizontal übereinander gelegt und mit einem „Single Column Tie“ zusammengebunden. Danach werden mehrer Lagen um den Oberkörper gewickelt und am Rücken fixiert. Dieses Muster wird in fast allen Schulen unterrichtet und unterscheidet sich immer in gewissen Punkten.

Der Takatekote (kurz: TK) enthält alle wesentlichen Grundelemente des Shibari. Dieses Muster ist gewissermassen wie ein Alphabet der Grundtechniken. Darum wird auch so viel Zeit darauf verwendet, es zu unterrichten. Neben den Techniken bietet es auch viele Gelegenheiten, mit dem Partner zu interagieren.

Es ist eines der stabilsten und am weitesten entwickelten Muster im Shibari. Daher wird der TK auch für zahlreiche fortgeschrittene Suspensionen und Transitionen verwendet.

Durch die symmetrische Struktur und weil der TK den ganzen Oberkörper umschliesst ist es einfach, Verzierungen („Kazari“) anzubringen. Damit wird der Takatekote auch zu einer soliden Grundlage für längere Sesssions oder Performances und kann immer anders aussehen.

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